
Eine deutsch-französische Liebesgeschichte
Petra Reategui
Können Sie Französisch?
Zu schwer, sagen Sie? Nie Gelegenheit zum Lernen gehabt?
Schade, wo Französisch doch die Sprache der Verliebten ist, die Sprache der Liebe. Und Hand aufs Herz, haben Sie nicht auch schon immer von einem romantischen Wochenende in Paris geträumt? Geben Sie sich also einen Ruck, es gibt tausendundeine Möglichkeiten, diese schönste aller schönen Sprachen der Welt zu lernen. Fangen Sie gleich jetzt an, noch heute. Sie werden sehen es ist gar nicht so schwer, wie Sie glauben. Wir beginnen mit ein paar ganz einfachen Grundbegriffen:
B – O – N – J – O – U – R
Das haben Sie sicher verstanden. Und wie sieht es damit aus?
C – H – E – R – I – E
Oder damit:
A – M – O – U – R
Sehen Sie, es ist ganz einfach, und wenn wir mit Großbuchstaben anfangen, ist es besonders einfach, weil man sich da gar nicht erst mit lästigen Akzenten abgeben muss, die zugegebenermaßen die schönste aller schönen Sprachen manchmal zum Ärgernis machen. Bei Großbuchstaben darf man die nämlich auch weglassen.
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Auch Sabine hatte nicht lange über Akzente nachgedacht, als sie anfing, die Buchstaben des Alphabets mit einem schwarzen Stift auf DIN A4-Seiten zu malen. Sabine könnte auch Helene geheißen haben oder Evelyn, Ursula oder – Petra wie ich. Wie Mädchen eben so hießen Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Aber ich nenne sie nun mal Sabine.
Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war Sabine so um die sechzehn. Ein gefährliches Alter und besonders gefährlich, wenn man gegenüber einer Kaserne wohnt, noch dazu einer französischen.
O – L – A – L – A!
Seit einem Jahr hatte Sabine Französisch in der Schule. Aber vielleicht, weil sie von Liebe oder von Amour noch nicht allzu viel verstand, tat sie sich schwer mit dieser für unsere deutsche Zunge hin und wieder doch etwas komplizierten Sprache. Sie war nicht die Einzige in der Klasse, die sich nicht merken konnte, ob die französische Sonne männlichen oder weiblichen Geschlechts war, die darüber stöhnte, dass das Wetter nicht heiß war, sondern heiß machte. Machte! Pourquoi – warum um alles in der Welt? – fait-il chaud? Ganz abgesehen von der langatmigen Frageform „Est-ce qu’il fait chaud? – Ist es, dass es heiß macht?“ oder der umständlichen Schreibweise des O, des einfachen Lauts O, den der Franzose zwar manchmal auch mit dem Buchstaben o wiedergibt, besonders gern aber, und um ausländisch sprechende und schreibende Menschen zu ärgern, mit der Vokalkombination a-u oder gar e-a-u. Was die Sache mit den auf DIN A4-Blättern gemalten Buchstaben erschweren wird – aber ich greife vor.
Sabine war also schlecht in Französisch, überhaupt war die ganze Klasse schlecht in Französisch. Üben, meine Damen, üben!, beschwor die Lehrerin die Mädchen tagtäglich, was bei den jungen Damen zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinausging. (An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass es sich bei Sabines Schule um ein reines Mädchengymnasium handelte, was möglicherweise auch dazu beitrug, dass Sabine in Sachen Amour noch nicht sehr bewandert war.)
Üben, predigte Frl. Rommel also, und hören Sie Radio, wir leben nahe des Elsaß’, da empfangen Sie französische Sender. Und lesen Sie!, flehte Frl. Rommel, lesen Sie Racine, Voltaire, Frankreich besitzt so wundervolle Klassiker! Racine! Voltaire! Die Ohren der Mädchen standen auf Durchzug, und bei der nächsten Klassenarbeit hagelte es wieder einmal Vierer und Fünfer. Sabine schrieb eine Fünf.
An diesem Nachmittag, als sie missgelaunt von der Schule nach Hause radelte, das Arbeitsheft mit der dicken, fetten Fünf in der Mappe – die hätte die doofe Kuh auch etwas dezenter schreiben können! – an diesem Nachmittag also schien die Sonne – la soleil oder le soleil? – strahlend vom blauen Himmel, und in allen, na gut, nicht in allen, aber bestimmt in fünf oder sechs Fenstern der Mannschaftszimmer der französischen Kaserne hockten junge Soldaten und schauten zur Straße hinaus. Eigentlich saßen dort fast immer Soldaten und guckten nach hübschen Mädchen, aufregenden Frauen und Gymnasiastinnen auf Fahrrädern. Normalerweise achtete Sabine nicht auf sie. Heute aber war nicht normalerweise, heute war einfach nur beschissen.
Eure beschissene Sprache! Wenn ich sitzenbleibe, seid ihr schuld. Sie feuerte wütende Blicke auf die Reihe der lässig in den Fensterrahmen hängenden uniformierten Jünglinge. Und da hatte einer sogar noch die Frechheit, ihr zuzuwinken. Blöder Kerl, zischte sie, als sie vom Rad abstieg und es in den Vorgarten schob. Bild’ dir nur nichts ein! Sie stellte das Fahrrad so an die Hauswand, dass sie, wenn sie sich bückte, um das Schloss abzuschließen und dann wieder hochkam, die Mannschaftszimmer schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite im Blick hatte. Da saß er doch tatsächlich noch immer, dieser dreiste Kerl, und schaute zu ihr herüber. Er hatte dunkle Haare.
Auch am nächsten Tag saß der Dunkelhaarige wieder am Fenster, als sie um dreizehn Uhr dreißig von der Schule zurückkam, und ebenso am übernächsten Tag und am überübernächsten Tag. Er winkte jedesmal, und sie tat jedesmal so, als ob sie es nicht sehen würde. Wink du nur, um mich zu beeindrucken, musste du dir schon ein bisschen mehr einfallen lassen.
Aber dann, es war ein Freitag, blieb das Fenster geschlossen, und Sabine ertappte sich dabei, dass sie sich fragte, wo er abgeblieben war. Es dauerte vier Tage, bis sie ihn wieder sah, aber nicht um halb zwei nach der Schule, sondern später am Nachmittag gegen fünf. Das Fenster in Sabines Zimmer, einer Mansarde unterm Dach, ging in Richtung Kaserne, und da es Sommer war, und es warm, sehr warm machte – il faisait chaud, très chaud -, stand es offen, und Sabine saß auf der Fensterbank, um auch so braun zu werden wie Patricia aus der Parallelklasse, die immer rumlief, als käme sie geradewegs aus Italien. Niemand wusste, wie sie das machte.
Sabine hatte es sich also auf der Fensterbank bequem gemacht, mit dem Rücken an den einen Rahmen gelehnt und die Füße gegen den anderen gepresst, und zählte die Fenster der Kasernenmannschaftszimmer ab (seines war das dritte von rechts im zweiten Stock), als er genau in diesem Augenblick (und etwas machte hupps in ihr) die beiden Fensterflügel aufmachte, sich hinauslehnte und die Straße hinunterblickte, in die Richtung, aus der sie sonst aus der Schule zu kommen pflegte. Hier oben bin ich, du Blödmann.
Es dauerte geschlagene drei Minuten, bis er sie entdeckte. Er schaute herüber, dann wieder weg, dann wieder zu ihr. Ja, ich bin’s! Sie wurde ungeduldig. Doch da winkte er schon. Endlich begriffen! Sabine kniff die Lippen zusammen, um nicht triumphierend zu grinsen – und winkte zurück. Das heißt, sie winkte nicht wirklich, sie hob einmal kurz den linken Arm, der soll sich nur nichts einbilden.
Eine Viertel Stunde hielten sie es miteinander aus, er dort, sie hier, dann winkte der Dunkelhaarige in der schicken hellbraunen Sommeruniform der französischen Armee wieder, sprang vom Fensterbrett, winkte noch einmal, hob dann beide Arme, wie um zu sagen, tut mir leid, und schloss das Fenster. Sabine blieb noch eine Weile sitzen, dann rutschte auch sie von der Fensterkante herunter, stellte ihr kleines Radio an, das es noch immer tat, obwohl es jahrelang auf dem Speicher gelegen hatte, und suchte auf Langwelle einen französischen Sender, das Elsaß war ja nah! Bei „Salut les copains“ hielt sie an. Sie verstand kein Wort, aber die Musik war gut. Der ollen Rommel werd’ ich’s zeigen! Und dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und begann die Buchstaben des Alphabets auf Din A4-Blätter zu malen. Große Buchstaben mit dicken Balken, so dick und fett, dass man sie über die ganze Straße hinweg, geschätzte, hm, zwanzig Meter Luftlinie?, würde lesen können.
Drei Tage später war Premiere. Jetzt oder nie, dachte Sabine, eine passendere Gelegenheit würde es nicht mehr geben. Ihre Schularbeiten waren erledigt – im Eiltempo -, das Wetter war schön, machte schön, ihre Mutter nicht zu Hause, und der Dunkelhaarige saß im Fenster, als Einziger an diesem Nachmittag, und hatte schon rüber gegrüßt. Unnötig zu erwähnen, dass Sabine das Herz bis zum Hals klopfte, unnötig auch zu erwähnen, dass ihr die Hände zitterten, als sie das Blatt mit dem Buchstaben B hochhob. An seiner Reaktion merkte sie, dass er es lesen konnte. Jetzt gab es kein zurück mehr:
O folgte, dann N – J – O – U – R.
Sabine war schlecht, der Magen drehte sich ihr um. Was würde er machen? Er hob beide Arme und drehte die Hände. Sabine atmete auf – und machte weiter:
J – E / M –, verflixt, sie hatte nicht an die Apostrophs gedacht, Scheiß-Sprache, aber das half jetzt auch nichts. Mit der Hand zeichnete sie ein Apostroph in die Luft.
Dann kamen: A-P-P-E-L-L-E S-A-B-I-N-E / E-T T-O-I, wonach sie mit der Hand ein großes Fragezeichen malte.
Warte!, gab ihr der Dunkelhaarige wild gestikulierend zu verstehen, und verschwand im Innern des Raums. Und wenn er sich jetzt krumm lachte über sie und vor seinen Zimmergenossen mit seiner Eroberung angab? Aber nach ein paar Minuten kam er zurück, wedelte mit bunten Blättern, und Buchstabe für Buchstabe entzifferte Sabine seinen Namen: P I E R R E .
Dann winkte Pierre, zeigte auf seine Armbanduhr, deutete Essen an und warf ihr eine Kusshand zu. Nee, dachte Sabine, so schnell schießen die Preußen nicht.
***
Ich denke mir, Sie denken jetzt, was ich denke: Das ist ja genau so wie heute! Das ist ja genau das, was Chantal, Nora, Ayse, Nico, Elis und Murat machen. Die tippen Buchstaben in ihre Handys, und heraus kommen Wörter. Nur die Technik ist etwas anders, und Datenschutz gab es damals in den 60ern des vergangenen Jahrhunderts auch noch nicht. Jeder konnte mitlesen, Pierres Kameraden und Sabines Nachbarn, vorausgesetzt sie verstanden Französisch.
Und so erfuhren vermutlich alle, dass Pierre aus Bordeaux – sehen Sie, da haben wir das blöde e-a-u! Das brauchte drei Zettel und gefühlte 30 Minuten, bis Sabine kapierte, dass Pierre aus Bordeaux kam und nicht aus Bord-e-a-u-x oder so was Ähnlichem. Und die halbe Kaserne erfuhr, dass Sabine am Wochenende eine Radtour nach Straßburg machen würde, und Pierre ein Fan von Françoise Hardy war. (Hier muss ich nun aber Sabines Nachbarn ein großes Lob aussprechen. Sie sind äußerst diskret gewesen, denn nie, wirklich nie, hatte Sabines Mutter ihre hoffnungsvolle Tochter auf diese ungewöhnliche Fernkommunikation hin angesprochen. Die Menschen tratschen also doch weniger, als man gemeinhin glaubt.)
***
Tja, und nun wollen Sie wahrscheinlich wissen, wie das mit der Kusshand weiterging. Deprimierend, kann ich Ihnen sagen, wirklich deprimierend. Sabine hat es mir selbst erzählt. Stell dir vor, hat sie gesagt, da haben wir uns nach zwei Wochen endlich per hochgehaltenen DIN A4-Blättern verabredet – um siebzehn Uhr am Haydnplatz -, und als ich dorthin kam, sah ich in der Ferne so einen französischen Soldaten am Brunnenrand stehen, die durften ja damals nur in Uniform ausgehen, die Armen. Ich dachte also, das muss er sein, so dunkel wie dem seine Haare waren. Du glaubst nicht, wie nervös ich war. Aber als ich fast schon vor ihm stand, stell dir vor, da war der ganz rot im Gesicht, und häßlich, und außerdem hatte er Pickel. Da bin ich an ihm vorbeigegangen, als wenn ich nicht ich wäre. Zu Hause hab’ ich ein bisschen geweint, dann die Buchstaben zerrissen und den französischen Sender angemacht. Salut, sagte der Ansager, das war das Einzige, was ich verstand, und sitzengeblieben bin ich in dem Schuljahr auch. Wegen Französisch.
Das Ende gefällt Ihnen nicht? Eh bien, wenn Sie es anders mögen – gern. So vielleicht?
Sabine ging also zum Haydnplatz, um siebzehn Uhr, und da lehnte ein französischer Soldat in Ausgehuniform am Brunnenrand, und sie dachte, das muss er sein, groß, schlank, aufregend. Zuerst standen sie ein wenig verlegen voreinander, Sabines Hände wurden ganz feucht, sie stotterte, merkte, dass Französisch sprechen noch viel schlimmer war als über die Straße hinweg schreiben, und sein Deutsch konnte man ohnehin vergessen. Dann aber gingen sie miteinander Eis essen, Vanille, Erdbeer und Schokolade – vanille, fraise et chocolat – und Pierre bezahlte. Er hatte bis sieben Uhr Ausgang, dafür brachte er Sabine aber zurück nach Hause. Aber nur fast, denn die Nachbarn könnten ja sehen, wie sie – olala! – händchenhaltend mit einem französischen Soldaten ankam. Bedenken Sie, der Krieg war erst zwanzig Jahren zuvor zu Ende gegangen, und die Franzosen waren schließlich traditionell auf die Rolle des Erzfeindes festgelegt. Bevor sie sich also eine Ecke eher trennten an diesem Abend, drückte Pierre Sabine einen Kuss auf die rechte Wange, und sie hatten beide knallrote Gesichter, vielleicht wegen der Augusthitze.
Von nun an trafen sie sich regelmäßig. Immer gingen sie gemeinsam Eis essen – vanille, citron, noisette -, danach spazierten sie durch den Schlosspark und den Hardtwald, fütterten die Eichhörnchen, les écureuils, und Pierre brachte Sabine die Konjugationen der unregelmäßigen französischen Verben bei, vor allem aber die des Wörtchens aimer: Je t’aime, tu m’aimes, il l’aime. Et toi, est-ce que tu m’aimes? Oui, te t’aime. Ah, nous nous aimons! Am Ende des Jahres bekam Sabine in Französisch im Zeugnis eine Zwei und blieb nicht sitzen. Die Buchstabenblätter steckte sie in einen roten Umschlag mit Herzchen und verwahrte das Päckchen zwischen Racine und Voltaire im Bücherregal, wo es noch heute steht, ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.
Jetzt ist die Geschichte wirklich zu Ende. Ich könnte Ihnen nur noch erzählen, dass Pierre und Sabine irgendwann heirateten und Kinder bekamen – und dass sie wehmütig beobachten, mit welcher Geschwindigkeit die heute Verliebten j-e t – Apostroph – a-i-m-e, je t’aime, in ihre Mobiltelefone tippen. Die Zeiten ändern sich und mit ihr die Technik, aber die Liebe bleibt dieselbe, und jetzt wissen Sie, warum Sie sofort, am besten noch heute anfangen sollten, französisch zu lernen. Man kann ja nie wissen.