Feodor ist bestimmt nicht gefragt worden, ob er nach Deutschland wollte. Ein Page wird nicht gefragt, was er möchte; ein Page gehört der Herrschaft. Und so kommt Feodor mit ungefähr acht Jahren über das zaristische St. Petersburg an den Karlsruher Hof.
Aber Markgraf Carl Friedrich, ein aufgeklärter Fürst, tut etwas sehr Kluges: Er entlässt das Kind aus dem Pagendienst und schickt es im Sommer 1776 an eine für die damalige Zeit außerordentlich fortschrittliche Schule, an das Philanthropin im Schloss Marschlins in Graubünden.
Ich versuche, mich an Feodors Stelle zu versetzen. Was geht wohl in ihm vor, während er gemeinsam mit drei anderen badischen Zöglingen und einem Erzieher in der harten unbequemen Postkutsche sitzt und draußen die Landschaft an ihm vorüberzieht? Ist die Reise für ihn ein Abenteuer, oder hatte er Angst vor dem, was auf ihn zukommt?
Langsam rücken sie näher, die verschneiten Gipfel. Fast bedrohlich wirken sie auf den, der sie zum ersten Mal sieht. Und die Kutsche rollt. Noch malt Feodor nicht. Er wird auch als Erwachsener keine Landschaften malen oder zeichnen.
Er wird Menschen aufs Papier bringen, seinen Freund Weinbrenner, den späteren badischen Oberbaudirektor, auf einer Leiter balancierend, andere beim Malen oder in einer Taverne. Er wird Gesichter festhalten, Trachten. Der Faltenwurf der Kleidung, die Knicke in den Kniebeugen der Hosen sind genauso prächtig gefältelt wie das Bergmassiv, das er von Schloss Marschlins aus von nun an jeden Tag sehen wird.
Es ist nicht mehr weit bis zum Schloss. Noch schwingen sich keine Elektrokabel von Pfeiler zu Pfeiler durch das Land, noch gibt es keine Windräder. Aber der Fluss, an dem sie jetzt entlangfahren, ist der gleiche, den er in der Nähe von Karlsruhe gesehen haben dürfte: Der Rhein, er kommt von dieser Gegend, wird der Erzieher den jungen Zöglingen erklären.
(aus meinen Reisenotizen)
Ich weiß nicht, ob die Postkutsche die kleine Gesellschaft bis zum Schlosseingang gebracht hat. Wahrscheinlich nicht. Ich vermute, dass die Kinder die letzte Strecke, vielleicht ab Landquart, zu Fuß gehen mussten. Mir hat ein alter Mann den Weg gezeigt: Immer dort entlang, bis zum Waldrand, Sie werden es dann schon sehen. Und so ist es, plötzlich liegt Schloss Marschlins vor mir, unverkennbar mit seinen vier Türmen, an jeder Ecke einer. Am nächsten Tag werde ich im Staatsarchiv Graubünden sitzen, in die untergegangene Welt des Philanthropins eintauchen, Feodor beim Lernen und Spielen begleiten und von einem Mord lesen, der den Jungen erschüttert haben dürfte.
1791 wird Feodor noch einmal in die Schweiz kommen. Vielleicht besucht er alte Freunde und Bekannte, bevor er dann aber neugierig und gespannt sich weiter auf den Weg nach Rom macht.